Lenz Koppelstätter: Der Tote am Gletscher

Ich mag keine Krimis. Trotzdem habe ich nun nach langer Zeit wieder mal einen gelesen: Der Autor ist ein Freund von mir, und natürlich ist es ein Vergnügen, ein Buch zu lesen und sich vorzustellen, wie sich das der Freund alles ausgedacht hat. So war es auch hier, es war ein entspanntes Lesevergnügen. Ich will dieses Mal hier nichts weiter schreiben, sondern den Anfang des Buches für sich sprechen lassen.

„Nachts auf dem Gletscher, da ist man nicht. Da hat man nicht zu sein, sagten die Leute in Schnals. Nachts auf dem Gletscher, das überlebst du nicht. Schon gar nicht im Winter, wenn es stürmt und schneit. Der Sturm ist es, der dich umbringt, sagten die Leute. Wenn der Sturm da ist, dann verlierst du die Orientierung, dann weißt du nicht mehr, wo vorne und wo hinten ist, wo Himmel und wo Erde sind, wo Gipfel und wo Tal, dann ist es aus – dann erfrierst.“

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Tschingis Aitmatow: Ein Tag länger als ein Leben

„Die Züge in jener Gegend fuhren von Ost nach West und von West nach Ost.

Zu beiden Seiten der Eisenbahn aber erstreckten sich in dieser Gegend große, öde Landstriche – Sary-Ösek, das Zentralgebiet der gelben Steppe.

In dieser Gegend bestimmte man alle Entfernungen nach der Eisenbahn, wie nach dem Greenwicher Nullmeridian.

Die Züge aber fuhren von Ost nach West und von West nach Ost…“

Diese Stelle taucht mehrmals im Buch auf und ist wie eine Art Hintergrundbild für die Handlung des Buches, in dem es gleich zwei Mal um das große Ganze geht. Einmal verfolgen wir als Leser in Rückblenden das Leben des Bahnwärters Edige, der mit einer Handvoll anderer Menschen in einem winzigen Bahnstreckenposten in der Einöde lebt und arbeitet. Ganz in der Nähe – und das ist der zweite Handlungsstrang, bei dem es ums große Ganze geht – ist auch eine Startrampe für sowjetische Raketen, wo es immer wieder Starts gibt, weil Astronauten per Funk berichten, dass sie Kontakt mit einer außerirdischen Lebensform Kontakt aufgenommen haben.

Aitmanow gelingt es wie kaum jemand anderem, den Leser in das Leben und die Gedankenwelt Ediges eintauchen zu lassen. Edige ist ein – vielleicht ist dies die kommunistische Komponente – ganz normaler Mensch, der liebt und hofft, sich wundert und träumt, Prinzipien hat und Erfahrungen macht. Und Aitmanow bringt genau diese Normalität, die jeder Mensch in sich trägt – auch der Ungewöhnlichste – zum Schimmern. Mal blitzt da auf sympathische Weise die Naivität von Edige auf, mal seine Unsicherheit, mal sein Ehrgefühl. Mit seltener Klarheit beschreibt Aitmanow, was in Edige vorgeht. Ein Leben, gefüllt in ein Buch.

Und immer wieder wird dieses Leben gespiegelt, verbunden, assoziiert, verknüpft mit der Welt und dem übergeordneten Zeitgeschehen. Da geht es um das Lied eines Sängers, um eine Sage über einen nahegelegenen Friedhof, um den kommunistischen Machtapparat und wie er seine Fühler in den kleinen Bahnstreckenposten ausstreckt und um die erste Kontaktaufnahme der Menschheit mit außerirdischem Leben (von der aber nur eine Handvoll Militärs etwas mitbekommen).

Ein Buch, das den Blick schärft: Auf die Fülle jedes einzelnen, noch so normalen und unspektakulären Lebens – und auf die großen weltweiten und interzeitlichen Zusammenhänge.

Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Ist das ein Buch über eine Kindheit, über das Erwachsenwerden, und was sich damit im Leben verändert und welcher Kern gleich bleibt? Oder eines über die Entstehung des Staates Israels? Eines über die Folgen des Holocausts, die bis in das Leben von Farnia reichen, die selbst darunter eigentlich nicht gelitten hat, über die Verbindung des jüdischen Volkes untereinander, aller Menschen? Ist es eine Familiengeschichte? Ein Buch über die Reifung eines großen Schriftstellers?

Viele epische Themen werden in diesem epischen Roman von mehr als 800 Seiten behandelt, und das gelingt dem Autor vor allem deshalb, weil er eine Art Erzähllasso besitzt: Er erzählt aus einer bisher von mir nirgendwo sonst entdeckten Mischung aus Unaufgeregtheit und Weiterlesebedürfnis.

Ein Versuch, diese einmalige Mischung besser zu erfassen: Oz benutzt kaum Cliffhanger, es gibt im Buch auch keinen richtigen Spannungsbogen. Er erzählt, ohne eine Dramaturgie zu bemühen. Das schafft eine im Großen eine gewisse Unaufgeregtheit. Und das Weiterlesebedürfnis? Kommt von einer derart anschaulichen Erzählweise, dass man einfach gleich an Bord ist und nicht mehr aussteigen möchte. Das besondere ist hier wohl auch die Dosierung: Mal werden Dinge – das Büro von Ben Gurion – sehr ausführlich beschrieben, mal werden Dinge nur so kurz beschrieben, wie es nötig ist. So entsteht von jeder Szene ein genau so detailliertes Bild im Kopf, wie es nötig und fruchtbar ist, nicht mehr und nicht weniger.

So entsteht ein Sog des Erzählens, ohne dass dafür ein Plot-Mittelpunkt vorhanden sein muss, der diesen Sog auslöst.

Und dann hat Amos Oz noch eine andere Gabe: er streut immer mal wieder universelle Weisheiten und Wahrheiten und neue Perspektiven aus Altbekanntes ein, allerdings so unaufdringlich und beiläufig, dass man ihre Bedeutung sozusagen en passant erfasst.

Alles zusammen ergibt ein Buch, das ein Kaleidoskop an kleinen Geschichten und Anekdoten und großen historischen Entwicklungen locker und gleichzeitig durch die besondere Erzählweise eng miteinander verknüpft.

Ein intellektuelles Wimmelbuch für Erwachsene.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Hohe Erwartungen sind beim Lesen von Büchern auch drängende Erwartungen. Werden sie nicht früh eingelöst, verwandeln sie sich oft in Ungeduld. „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells wurde mir von mehreren Menschen, deren Meinung ich schätze, empfohlen, zuallererst von Doina. Gleich die ersten Seiten aber haben mich etwas verärgert: Es geht um einen Unfall, und darum, wie sich jemand erinnert. Als das Erinnern beginnt, macht der Ich-Erzähler immer ominöse Ankündigungen à la „da wusste ich noch nicht, dass am nächsten Tag etwas Schlimmes geschehen würde“. Das ist ein intelligentes Mittel, natürlich wollte ich unbedingt wissen, was passieren wird. Aber es ist – rhetorisch betrachtet – auch etwas billig.

Jetzt bin ich auch ungefähr bei einem Drittel dieser Rezension, und wie ich bei Wells wird womöglich auch der Leser enttäuscht sein. Also rasch weiter. Denn jetzt wird alles anders.

Ich kann die Stelle nicht mehr identifizieren, an der mich dann das Buch gepackt hat, es muss zu Beginn des zweiten Drittels gewesen sein. Das ist relativ spät, aber dafür war der Griff, den ich dann verspürte, umso fester.

Kurz zur Geschichte und Erzählweise: Der Ich-Erzähler ist eines von drei Geschwistern, die im Alter von etwa 8 Jahren ihre Eltern bei einem Autounfall verlieren und dann ins Internat kommen. Jedes Kapitel spielt in einem anderen Jahr, manchmal geht es nur um Tage, manchmal um Monate, manchmal um Jahre. Zwischen den Kapiteln sind jeweils Zeitsprünge. Auf diese Weise lernt man den Erzähler im Kindesalter kennen und man begleitet ihn, bis er etwa 40 Jahre alt ist.

Das ist einer der Gründe, warum das Buch derart fasziniert. Es geht um den Bogen, den es spannt: Ein ganzes Leben. Im Laufe der Lektüre wird immer klarer: Es ist oft Dauer, die zählt. Der Mensch verändert sich, aber ein Kern bleibt gleich – und der beeinflusst auch immer die Umgebung. Wann die unmittelbare Hülle um diesen Kern geformt wird, die einen großen Einfluss hat, das ist unterschiedlich, aber die Erlebnisse in der Kindheit spielen oft eine wichtige Rolle.

Das Buch hat mich noch aus anderen Gründen gepackt: Benedict Wells hat keine besonders schöne Sprache, aber er hat an manchen Stellen einprägsame Metaphern, siehe auch unten. Und er hat einen besonderen Blick, ich nenne ihn mal poetisch-analytisch: Er analysiert etwas, und unterstreicht es dann mit einem poetischen Gedanken. Ein Beispiel: „Mein Bruder wohnte ganz hinten im Gang. Im Gegensatz zu meiner Schwester oder mir hatten die letzten Jahre Marty kaum etwas anhaben können, er hatte aber auch am wenigsten zu verlieren gehabt. Er war wie eine Ameise, die nach einem Atomkrieg unbeirrt weitermachte.“

Zurück zur Dauer. Die brauchte es eben auch, um mit dem Buch vertraut zu werden. Manchmal lohnt sich die Geduld, das habe ich hier gelernt. Aber, vielleicht verkläre ich das auch, irgendwie hatte ich trotz der Startschwierigkeiten schon schnell geahnt, dass es etwas ganz besonderes sein würde.

Ein paar schöne oder interessante Sätze aus dem Buch:

– Als Kind: „Dass ich auf einem Planeten war, der mit unglaublicher Geschwindigkeit durchs All schoss, am mir ebenso erschreckend vor wie der neue, verstörende Gedanke, dass es unvermeidlich war zu sterben.“

– Über den Bruder: „Aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatte Marty eine dreistufige Treppe gebaut, die ihn steil nach oben führte.“

– Über die sich anschweigenden Geschwister: „Und nun saßen wir am Tisch wie drei Schauspieler, die nach langer Zeit wieder zusammentrafen und sich nicht mehr an den Text ihres berühmtesten Stücks erinnerten.“

– „Gelangweilt sein, aus Angst davor, langweilig zu sein.“

– „Ich hatte in die Vergangenheit gerufen, aber kein Echo zurückerhalten.“

– „Wie ein Boxer, der in die Ringecke zurückwankt, geschlagen von seinem jüngeren Ich.“

– „Meine Phantasie war wie ein stillgelegtes Bergwerk, und nun fuhr ich mit der Lore hinab und war erstaunt, was man von dort unten alles zutage fördern konnte.“

– Über Alva: „Sicherlich hatte sie Romanow auch deshalb geheiratet, weil er zwei ihrer Lieblingsdrogen herstellte: Zuversicht und schöne Worte.“

– „Es gab Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich.“

Sollte man mehrmals lesen: das vorletzte Kapitel, „Das Unveränderliche“, ab Seite 263, hier geht es darum, was im Menschen unveränderlich ist.

John Fante: 1933 war ein schlimmes Jahr

Wenn ein Autor es schafft, ein Credo seines Lesers umzuwerfen, dann muss er ein Talent haben. Mein Credo war immer: Keine Geschichten lesen, bei denen abzusehen ist, dass man vordergründig nichts daraus lernt, dass sie bei der eigenen Entwicklung nicht helfen.  Ich habe es doch getan, und ich will künftig dem Zufall – man kann eben nicht alles absehen – zumindest etwas mehr Raum geben bei der Auswahl von Büchern. Es stimmt zwar, vordergründig lernt man aus Fante wohl kaum etwas: „1933 war ein schlimmes Jahr“ ist die Geschichte eines Jungens, erzählt aus dessen Perspektive in der Ich-Form, der in den USA in einer Kleinstadt lebt. Seine Eltern sind Einwanderer aus Italien, der Vater ist Maurer, sie haben ständig Geldsorgen. Der Sohn wird manchmal davon heruntergezogen, aber immer schimmert auch der Traum durch, doch einmal ein großer Baseball-Spieler zu werden.

Von der bloßen Handlung her betrachtet ist es genau das, was ich erwartet habe: Ein junger Mensch, gefangen in Perspektivlosigkeit, träumt vom Ausbruch, wird aber immer wieder von der Realität eingeholt.

Aber wie das erzählt ist: Voller Warmherzigkeit, voller Differenziertheit, voller Sympathie. Der Autor hat so oft die Möglichkeit, die Ereignisse ins Negative hin eskalieren zu lassen, aber er tut es nicht. Stattdessen bekommen wir hier einen wunderbar tiefen Einblick in ein Leben, das am Anfang steht und sich auf zarte und dennoch beharrliche Weise gegen den scheinbar festgelegten Lebensweg wehrt.

Das ist nicht nur große Erzählkunst, sondern auch große Menschlichkeit, die einem hier begegnet.