Hohe Erwartungen sind beim Lesen von Büchern auch drängende Erwartungen. Werden sie nicht früh eingelöst, verwandeln sie sich oft in Ungeduld. „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells wurde mir von mehreren Menschen, deren Meinung ich schätze, empfohlen, zuallererst von Doina. Gleich die ersten Seiten aber haben mich etwas verärgert: Es geht um einen Unfall, und darum, wie sich jemand erinnert. Als das Erinnern beginnt, macht der Ich-Erzähler immer ominöse Ankündigungen à la „da wusste ich noch nicht, dass am nächsten Tag etwas Schlimmes geschehen würde“. Das ist ein intelligentes Mittel, natürlich wollte ich unbedingt wissen, was passieren wird. Aber es ist – rhetorisch betrachtet – auch etwas billig.
Jetzt bin ich auch ungefähr bei einem Drittel dieser Rezension, und wie ich bei Wells wird womöglich auch der Leser enttäuscht sein. Also rasch weiter. Denn jetzt wird alles anders.
Ich kann die Stelle nicht mehr identifizieren, an der mich dann das Buch gepackt hat, es muss zu Beginn des zweiten Drittels gewesen sein. Das ist relativ spät, aber dafür war der Griff, den ich dann verspürte, umso fester.
Kurz zur Geschichte und Erzählweise: Der Ich-Erzähler ist eines von drei Geschwistern, die im Alter von etwa 8 Jahren ihre Eltern bei einem Autounfall verlieren und dann ins Internat kommen. Jedes Kapitel spielt in einem anderen Jahr, manchmal geht es nur um Tage, manchmal um Monate, manchmal um Jahre. Zwischen den Kapiteln sind jeweils Zeitsprünge. Auf diese Weise lernt man den Erzähler im Kindesalter kennen und man begleitet ihn, bis er etwa 40 Jahre alt ist.
Das ist einer der Gründe, warum das Buch derart fasziniert. Es geht um den Bogen, den es spannt: Ein ganzes Leben. Im Laufe der Lektüre wird immer klarer: Es ist oft Dauer, die zählt. Der Mensch verändert sich, aber ein Kern bleibt gleich – und der beeinflusst auch immer die Umgebung. Wann die unmittelbare Hülle um diesen Kern geformt wird, die einen großen Einfluss hat, das ist unterschiedlich, aber die Erlebnisse in der Kindheit spielen oft eine wichtige Rolle.
Das Buch hat mich noch aus anderen Gründen gepackt: Benedict Wells hat keine besonders schöne Sprache, aber er hat an manchen Stellen einprägsame Metaphern, siehe auch unten. Und er hat einen besonderen Blick, ich nenne ihn mal poetisch-analytisch: Er analysiert etwas, und unterstreicht es dann mit einem poetischen Gedanken. Ein Beispiel: „Mein Bruder wohnte ganz hinten im Gang. Im Gegensatz zu meiner Schwester oder mir hatten die letzten Jahre Marty kaum etwas anhaben können, er hatte aber auch am wenigsten zu verlieren gehabt. Er war wie eine Ameise, die nach einem Atomkrieg unbeirrt weitermachte.“
Zurück zur Dauer. Die brauchte es eben auch, um mit dem Buch vertraut zu werden. Manchmal lohnt sich die Geduld, das habe ich hier gelernt. Aber, vielleicht verkläre ich das auch, irgendwie hatte ich trotz der Startschwierigkeiten schon schnell geahnt, dass es etwas ganz besonderes sein würde.
Ein paar schöne oder interessante Sätze aus dem Buch:
– Als Kind: „Dass ich auf einem Planeten war, der mit unglaublicher Geschwindigkeit durchs All schoss, am mir ebenso erschreckend vor wie der neue, verstörende Gedanke, dass es unvermeidlich war zu sterben.“
– Über den Bruder: „Aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatte Marty eine dreistufige Treppe gebaut, die ihn steil nach oben führte.“
– Über die sich anschweigenden Geschwister: „Und nun saßen wir am Tisch wie drei Schauspieler, die nach langer Zeit wieder zusammentrafen und sich nicht mehr an den Text ihres berühmtesten Stücks erinnerten.“
– „Gelangweilt sein, aus Angst davor, langweilig zu sein.“
– „Ich hatte in die Vergangenheit gerufen, aber kein Echo zurückerhalten.“
– „Wie ein Boxer, der in die Ringecke zurückwankt, geschlagen von seinem jüngeren Ich.“
– „Meine Phantasie war wie ein stillgelegtes Bergwerk, und nun fuhr ich mit der Lore hinab und war erstaunt, was man von dort unten alles zutage fördern konnte.“
– Über Alva: „Sicherlich hatte sie Romanow auch deshalb geheiratet, weil er zwei ihrer Lieblingsdrogen herstellte: Zuversicht und schöne Worte.“
– „Es gab Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schrieb, dann fühlte ich.“
Sollte man mehrmals lesen: das vorletzte Kapitel, „Das Unveränderliche“, ab Seite 263, hier geht es darum, was im Menschen unveränderlich ist.